SPD Sendenhorst

Für unsere Stadt, für unser Dorf, für die Menschen.

Gedanken zum Tag

Veröffentlicht am 14.11.2010 in Allgemein

Wolfgang Janus, Mitglied des Rates der Stadt Sendenhorst und 2. stellvertretender Bürgermeister, hat bei der diesjährigen Gedenkfeier zum Volkstrauertag die Ansprache gehalten. Seine "Gedanken zum Tag" veröffentlichen wir hier.

Gedanken zum Tag

Sehr geehrte Anwesende,

wir sind zusammengekommen, um gemeinsam der Opfer von Gewalt und Krieg zu gedenken.

Es gibt seit mehr als zehn Jahren die Tradition, dieses gemeinsame Gedenken hier im Schlabberpohl zu beginnen. Wir sind versammelt um eine Stele, die an den Standort der ehemaligen jüdischen Synagoge in Sendenhorst erinnert.

Wir wissen von Heinrich Petzmeyer, dass es eine jüdische Gemeinde in Sendenhorst gab, die 1816 dreiundvierzig Mitglieder zählte. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wanderten viele Familien aus wirtschaftlichen Gründen ab. Die letzte jüdische Familie verließ Sendenhorst noch vor dem Ersten Weltkrieg. Eine eigene Synagogengemeinde bestand in Sendenhorst von 1800 – 1889. Nach der Veräußerung des Gotteshauses nutzten die Neueigentümer sie als Abstellraum. 1904 wurde sie abgetragen. Der jüdische Friedhof ist letztes sichtbares Zeichen, das es einmal jüdischen Leben in Sendenhorst gegeben hat.

GedenksteleWenn wir das Gedenken zum Volkstrauertag bewusst hier beginnen, gedenken wir des Schicksals von 6 Millionen Menschen jüdischen Glaubens, die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. Dieser Völkermord zielte auf die vollständige Vernichtung der europäischen Juden. Er wurde mit dem staatlich propagierten Antisemitismus begründet und im Zweiten Weltkrieg seit 1941 systematisch durchgeführt.

Was wir heute unter dem Begriff Holocaust bzw. Shoah zusammenfassen, ist ein unvergleichlicher und unfassbarer Zivilisationsbruch. Noch heute beschäftigt uns die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Menschen bereit waren, die brutale menschenverachtende Ideologie der Nazis anzunehmen und an deren Umsetzung mitzuwirken.

Vor dem 2. Weltkrieg gab es 600.000 Deutsche jüdischen Glaubens. Sie waren Teil der deutschen Gesellschaft. Sie machten nicht einmal 1 % der Gesamtbevölkerung aus. Zu Ihnen gehörte Leonie Sachs, genannt Nelly. 1891 in Berlin geboren, wuchs sie als Einzelkind in einem groß-bürgerlichen Milieu auf. 1908 schließt sie ihre schulische Ausbildung mit der Mittleren Reife ab. Um diese Zeit beginnt sie Gedichte zu schreiben und veröffentlicht 1921 mit Unterstützung von Stefan Zweig ihren ersten Gedichtband. Ende der 1920er Jahre werden ihre Gedichte in verschiedenen Berliner Zeitungen gedruckt.

Nelly Sachs und ihre Mutter leben in den 1930er Jahren in Berlin sehr zurückgezogen. Nelly Sachs erlebt die zunehmende Entrechtung direkt. Ihr Haus in der Lessingstraße nutzt ihnen wenig, denn die Bewohner zahlten der jüdischen Familie keine Miete mehr. Hohe Abgabenpflichten für Nichtarier zwingen die beiden, ihr Haus zu verkaufen. Die alltäglichen Schikanen führen dazu, dass Nelly Sachs tagelang die Sprache verliert. Sie erlebt die November Pogrome 1938, die Zerstörung der Synagogen und die Gewalt gegen Juden. Wiederholt wird sie zu Gestapo-Verhören einbestellt. Die Wohnung wird von SA-Leuten geplündert. Zu Beginn des 2. Weltkriegs wird sie kurzzeitig verhaftet. Erst spät entschließt sie sich, mit ihrer Mutter aus Deutschland zu fliehen. Die schwedische Autorin Selma Lagerlöf setzt sich für ein Visum für Nelly Sachs und deren Mutter ein. Nach monatelangen bürokratischen Hemmnissen kann Nelly Sachs gemeinsam mit ihrer Mutter im Mai 1940– der Befehl für den Abtransport in ein Lager war bereits eingetroffen – mit dem letzten Linienflug, buchstäblich im letzten Moment, Deutschland Richtung Stockholm verlassen.

In Schweden überleben die beiden Frauen den Holocaust und den Krieg in ärmlichen Verhältnissen in einer Einzimmerwohnung im Süden Stockholms. Der Schrecken der Verfolgung und Schulgefühle angesichts des eigenen Überlebens wirken auf ihr ganzes weiteres Leben. Sie finden Niederschlag und Ausdruck in ihrer lyrischen Arbeit. 1965 wird sie mit dem Friedenspreis des deutschen Buschhandels und 1966 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Sie stirbt achtundsiebzigjährig in Stockholm.

Bernhard Kleinhans hat zwei Strophen eines ihrer Gedichte auf dem Obelisken festgehalten, der heute neben dem Ehrenmal steht und einen Kontrast zu der Bildersprache von Stahlhelm und Eichenkranz bildet. Diese Worte von Nelly Sachs sollen uns auf dem Weg dorthin begleiten:

Völker der Erde,
zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Völker der Erde,
O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt –
Und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht -

Sehr verehrte Anwesende,

der Volkstrauertag versteht sich heute als Tag der Mahnung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden. Der Volkstrauertag ist ein Tag des stillen Gedenkens und Erinnerns.

Der Volkstrauertag steht im Kontrast zum ‚Heldengedenken‘ der Nazi – Zeit. 1934 hatten die nationalsozialistischen Machthaber durch ein Gesetz das bereits in der Weimarer Republik eingeführte Gedenken an die gefallenen Soldaten zum Staatsfeiertag gemacht. ‚Treue ist das Mark der Ehre` steht hinter mir in den Stein gemeißelt. Soldaten wurden zu Helden stilisiert. Die staatlich verordnete Heldenverehrung hatte zum Ziel, die Kriegszustimmung zu fördern.

GedenkstätteDas Ehrenmal wurde in Sendenhorst Ende der 1920er Jahre errichtet. An der Stelle des Stahlhelms befand sich dort zunächst ein republikanischer Adler. Die Umgestaltung des Ehrenmals mit Stahlhelm auf gekreuzten Gewehren mit Eichenlaub war von der Sendenhorster Ortsgruppe des ‚Stahlhelms – Bund der Frontsoldaten‘ noch vor der Machtergreifung Hitlers veranlasst worden. 1994 wurde dieser militaristischen Bildersprache ein Obelisk beigefügt, der mit einer stilisierten Dornenkrone versehen ist. Dieser Obelisk steht für das heutige Verständnis des Volkstrauertags, der das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt in das Zentrum rückt.

Unser Totengedenken an diesem Tag ist umfassend. Ich möchte in meiner heutigen Ansprache besonders die Erinnerung an den Holocaust thematisieren.

Johannes Rau hat vor zehn Jahren in seiner Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, folgenden Gedanken geäußert: „Wir Deutschen werden in alle Zukunft begleitet werden von den Bildern der Morde, die Deutsche zu verantworten haben. Deutsche und Israelis sind in dieser Erinnerung untrennbar verbunden. Die persönliche Schuld mag der Täter mit ins Grab nehmen. Die Folgen einer Schuld, die die Grundlagen menschlicher Sittlichkeit erschüttert hat, tragen die nach ihm kommenden Generationen.“

Dieser Umgang mit den Folgen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten von Generation zu Generation verändert. Die Zahl derer nimmt ab, die den Krieg und den Nationalsozialismus noch direkt miterlebt haben. Nachfolgende Generationen haben sich gegen das Verdrängen und Verleugnen in der jungen Bundesrepublik aufgelehnt. Die Erinnerung war verbunden mit Scham. Die Frage nach Schuld stand unbeantwortet im Raum. Später gewann die Verantwortung für den Frieden große Bedeutung.

Inzwischen ist eine Generation herangewachsen, für die der Nationalsozialismus ganz und gar Geschichte ist. »Was geht uns das noch an?« so fragte die Wochenzeitung die ZEIT in einer Untersuchung Jugendliche der vierten Nachkriegsgeneration und veröffentlichte die Ergebnisse in der vergangenen Woche. Die Antworten ergeben ein herausforderndes Bild. 65 Jahre danach, so der Autor der ZEIT, sind die Jugendlichen offener für ehrliche Korrekturen privat tradierter Geschichtsbilder als jede Generation zuvor. Mit zeitlichem Abstand schwinde demnach nicht nur die unmittelbare Betroffenheit, sondern auch das alte historische Zerrbild vom unterdrückten deutschen Volk.

Unter dem Titel: ‚Erziehung nach Ausschwitz‘ habe ich in den Herbstferien an einer Fortbildung in Yad Vashem teilgenommen. Yad Vashem ist die zentrale israelische Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust in Jerusalem. Diese Institution ist Archiv, Forschungsstätte, Schule, Informations- und Begegnungsort. Ihr Auftrag ist das wach halten der Erinnerung an die Shoah. Sie will dabei möglichst vielen Opfern ihre Identität zurückgeben. In Yad Vashem werden mittlerweile die Namen und Lebensgeschichten von über 3 Millionen Menschen dokumentiert, die Opfer des Holocaust wurden.

Lehrerinnen und Lehrer gingen der Frage nach, wie der Holocaust im Unterricht heute thematisiert werden und die Erinnerung daran lebendig bleiben kann. Ich habe dabei eine Form des Erinnerns kennen gelernt, die nicht Anklage war, sondern mich Anteil nehmen ließ an dem Leben einzelner Menschen und ihres Schicksals.

Ich bin in Israel einer Zeitzeugin begegnet, die Ausschwitz überlebt hat. Sie sagte, solange ihr Licht brenne, möchte sie es nutzen, um Zeugnis abzulegen. Für Zeitzeugen ist das eine schwere Bürde, sich immer wieder mit den eigenen schrecklichen Erinnerungen zu konfrontieren. Aber sie spüren die Notwendigkeit dieser Arbeit. Viele Schulen, auch die Sendenhorster Realschule, nutzen die Möglichkeit, mit Hilfe von Zeitzeugen diesen Teil der Geschichte zu erinnern. Die Schülerinnen und Schüler sind jedes Mal stark berührt und in einem ungewohnten Maße beteiligt. Es rückt aber die Zeit näher, in der die Menschen von uns gegangen sein werden, die die Nazi-Zeit bezeugen können.

Zukünftig haben wir diese Zeugnisse nur noch medial konserviert zur Verfügung. Die persönliche Begegnung, die eine direkte Beziehung ermöglicht hat, wird dann verloren sein. Erinnerungsstätten wie Yad Vashem suchen neue Wege, diese Beziehungen immer wieder herzustellen, indem sie das Arbeiten mit Biografien, Schriften, Fotografien und Zeitdokumenten ermöglichen. Erinnern wird zu einem aktiven Prozess der Auseinandersetzung.

Erinnern ist aber auch Quellenforschung im Archiv im Dienste der sachlichen Aufklärung. Historiker haben jetzt die Rolle des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit untersucht und revidieren ein Bild, das diese Einrichtung sich lange gegeben hat. Einige gehen jetzt sogar weit, das Auswärtige Amt jener Zeit, eine „verbrecherische Organisation“ zu nennen.

Aufgrund von Geschichtsforschung sehen wir inzwischen auch Persönlichkeiten in einem anderen Licht, derer wir zum Beispiel in Sendenhorst noch heute mit der Benennung von Straßen erinnern. Karl Wagenfeld war nicht nur Mundartdichter und Heimatforscher, sondern mittels Wort und Text auch aktiver Wegbereiter des Nationalsozialismus. Carl Diem war nicht nur Chef deutscher Olympiamannschaften und Gründungsdirektor der Deutschen Sporthochschule in Köln, sondern auch maßgeblicher Sportfunktionär im 3. Reich und Verfasser von kriegsverherrlichenden Reden. Wir sollten diese Erinnerung verändern.

Erinnern ist kein Verharren im Rückblick. Erinnern gelingt nicht im Wiederholen normierter Gedenksätze. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, unsere Geschichte anzunehmen, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten und aus den Schrecken der Vergangenheit die richtigen Schlüsse zu ziehen. ‚Wir erinnern, weil wir unserer Gesellschaft in der Gegenwart und in der Zukunft ein menschlicheres Antlitz geben wollen‘, so Jürgen Rüttgers bei einem Studientag Yad Vashems in Düsseldorf in der vergangenen Woche.

Das gemeinsame Erinnern lässt uns auch die Errungenschaft einer demokratischen Gesellschaft bewusst werden, die auf allgemeinen und gleichen Rechten beruht. Wir dürfen nicht ausgrenzen, sondern müssen die Teilhabe ermöglichen. Das ist Voraussetzung für eine Gesellschaft, in der niemand Angst haben muss, ganz gleich wie er aussieht, ganz gleich wo er herkommt, ganz gleich was sein Glaube ist, ganz gleich wie stark oder wie schwach, wie gesund oder krank er ist.

Wir sehen den direkten Zusammenhang zwischen gesicherten Frieden und gerechter Entwicklung. Kriege stehen jeder gedeihlichen Entwicklung entgegen. In Europa haben wir Wege gefunden, Spannungen und Konflikte durch Regeln, Absprachen und Vertrauen zu lösen. Aus der Erinnerung an die Kriege ist die Kraft zur gemeinsamen Gestaltung unserer Zukunft in Europa gewachsen. Dieses Wissen müssen wir bewahren und verbreiten.

Wir erkennen, dass eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz auf der Achtung der Menschenrechte basiert. Ich möchte diese Gedenkrede mit dem Text schließen, den wir auf der Vorderseite des Obelisken finden. ‚Wir bekennen uns zur Unverletzlichkeit der Menschenrechte. Sie sind die Grundlage jeder Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit. Niemand darf den Geist des Guten verkehren, die Lust zum Bösen wecken. Nie wieder darf Unrecht Gesetz werden.‘

Bevor wir diese Gedenkfeier mit dem Totengedenken und einer Schweigeminute beenden, möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Teilnahme bedanken. Ich bedanke mich bei der Stadt– und Feuerwehrkapelle für die musikalische Unterstützung. Dem Allgemeinen Schützenverein St. Martinus danke ich, dass er mit seiner jährlichen Spendensammlungen die Arbeit des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge unterstützt, die sich ausdrücklich als Friedensarbeit versteht.

Wolfgang Janus: Rede zum Volkstrauertag am 14. November 2010

SPD-Fraktion im Bundestag

Am Freitag ist die bundesweite Bilanz des Zolls für das Jahr 2023 vorgestellt worden. Klar ist: Der Zoll muss noch stärker zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beitragen und dafür auch die erforderlichen Mittel bekommen, sagt Carlos Kasper.

alle Pressemitteilungen

Mitmachen in der SPD